2 x "Grablegung Christi"_ein Bilder-Vergleich
geschrieben am 24.07.2021 von Ulrich Forster(zum Vergrößern auf das Bild klicken)
Wenn man lernen will „Kunst zu sehen“ (wenn man also nicht nur Wissen über Kunst sammeln, sondern wirklich den eigenen Blick schulen will, um eigenständig urteilen zu lernen) gibt es nichts Lehrreicheres, als möglichst ähnliche Werke miteinander zu vergleichen. In einem solchen direkten Vergleich können wir am besten begreifen, wie Bilder, Skulpturen oder andere Kunstwerke „funktionieren“ – wie Bildwirkung entsteht und wie enorm sich manchmal scheinbar geringe Veränderungen auswirken…
Ich schreibe diesen Artikel als erweiterte Antwort auf die wiederholten Nachfragen von Christian Ebbertz in den Kommentaren zu den Vortragsveröffentlichungen. Unten kopiere ich den kompletten „Schriftwechsel“, der sich daraus inzwischen ergeben hat für alle, die sich dafür interessieren. Hier will ich speziell auf die letzte Frage von Christian eingehen. Sie berührt einen spannenden Punkt, von dem ich meine, er könnte für andere auch interessant sein. Christian hat mich auf ein Bild aufmerksam gemacht, das ich noch nicht kannte: Peter Paul Rubens Adaption von Caravaggios berühmter „Grablegung Christi“ aus der Pinakothek der Vatikanischen Museen (oben im Vergleich mit dem Vorbild zu sehen).
Lieber Christian, noch einmal vielen Dank für dein hartnäckiges Nachfragen! Du hast wiederholt einen Punkt angesprochen, der sehr interessant ist und zu dem ich hier noch einmal meine Gedanken äußern möchte. Du sprichst immer wieder den „Mangel an Raumtiefe“ in Caravaggios Bildern an. Deine Vorstellung ist (wenn ich es richtig verstehe), dass sich dieser „Mangel“ daraus ergibt, dass Caravaggio als Pionier eines neuartigen Hyperrealismus noch an gewisse Grenzen gestoßen ist und dass erst spätere Maler in der Lage waren, die Probleme, die sich aus den Innovationen Caravaggios ergeben haben zu lösen.
Du lieferst außerdem mit der Rubens-Adaption, die wir im direkten Vergleich mit Caravaggios Gemälde betrachten können eine wunderbare Vorlage, über ein sehr grundsätzliches Kunstthema zu sprechen.
Dir ist aufgefallen, dass Rubens das Bild nicht schlicht 1:1 kopiert, sondern dass er seine eigene Version schafft. Naheliegend ist der Gedanke, dass Rubens dabei überlegt hat, was er denn vielleicht an dem Bild verbessern könnte. Rubens reiste in jenen Jahren durch ganz Italien, studierte die Spitzenwerke der berühmtesten Maler Italiens des (aus Rubens Sicht) letzten Jahrhunderts und versuchte, sich das Beste von all dem anzueignen, was seine Heroen auszeichnet: Er wollte Tizians Meisterschaft des Farbauftrags verbinden mit Michelangelos Kraft und Heroismus, wollte so überbordend brillant fantasievoll sein wie Veronese und dabei zugleich solch raffinierte Kompositionen erfinden wie Raffael…
Wenn er das Ganze dann noch kombinieren könnte mit einer tüchtigen Brise niederländischem Realismus, müssten bei seinem herausragenden Talent Bilder entstehen, die über alles hinausgehen, was von den Größten der Großen bis dahin geschaffen wurde.
(Das ist vielleicht etwas zugespitzt beschrieben, aber tatsächlich kann man Rubens Kunst auf diese Weise ganz gut begreifen.)
Nun ist aber gerade der Bildervergleich, auf den du mich gestoßen hast, eine wunderbare Möglichkeit, die Logik dieses Vorgehens bzw. des dahinterstehenden Gedankens zu hinterfragen.
Rubens habe „den Mangel an Raumtiefe…behoben“ schreibst du in deinem letzten Kommentar. Dabei setzt du „behoben“ in Anführungszeichen, vermutlich weil dir die Formulierung nicht ganz geheuer ist. Ich selbst hätte in diesem Satz dagegen das Wort „Mangel“ in Anführungszeichen gesetzt. Genau da liegt nämlich der Hase im Pfeffer: Ist die fehlende Raumtiefe denn tatsächlich ein Mangel?
Wenn ja: warum genau?
Rubens empfindet es scheinbar genau so, denn er bemüht sich ganz offensichtlich darum, dem Bild Caravaggios, das tatsächlich sehr "scherenschnitthaft" wirkt, mehr Raumtiefe zu verleihen. Dazu verändert er zunächst einmal die Proportionen, so dass er rechts neben der Figurengruppe mehr Platz bekommt. Da ist nun eine weitere Figur düster zu erahnen und von der aus geht es hinauf zu einer torbogenartigen Andeutung eines Hintergrunds (die Gruft oder Grabhöhle im Fels), wo bei Caravaggio (fast) vollkommen tiefes Schwarz jegliche Raumtiefe verschluckt.
Wir stellen also fest: Wenn es Rubens tatsächlich darum ging, in seiner Version dem Bild mehr Raumtiefe zu verleihen, weil er das in Caravaggios Bild als unbefriedigend empfunden hat, ist ihm sein Vorhaben sehr geschickt gelungen. Und wenn wir uns näher auf den Bildervergleich einlassen, stellen wir außerdem fest: auch die anderen Veränderungen laufen vor allem darauf hinaus, das Bild tiefenräumlicher wirken zu lassen. Die deutlichste: Rubens verzichtet auf die sehr auffällige weibliche Figur oben rechts (vermutlich Maria Kleophae) – die mit den dramatisch emporgerissenen Armen. Folgerichtig lässt er auch die dritte beleuchtete Hand (Mitte links) weg, die nur als Antwort auf die beiden beleuchteten Hände der genannten Figur Sinn macht. Auch die übrigen Figuren variiert er leicht und ändert ihre Positionen. Alles dient dabei dem selben Zweck: Eine größere räumliche Staffelung auch innerhalb der Figurengruppe zu erreichen und die Flächigkeit von Caravaggios Bild aufzulösen. (Wir haben ein viel stärkeres Gefühl von "vorne" und "hinten", wenn wir Rubens Figurengruppe anschauen.)
Rubens Bild ist also auffällig räumlicher (und es ist zugleich ruhiger – die Szene wirkt bei ihm intimer und weniger exaltiert expressiv).
Mission accomplished!
Aber:
Ist Rubens' Version des Themas dadurch tatsächlich die gelungenere? Ist sie das vollständigere oder vollkommenere Gemälde?
Zu diesem Schluss muss man kommen, wenn man Rubens eigene Kriterien anlegt. Oder wenn man, wie du es suggerierst, Raumtiefe in einem Gemälde als Wert an sich ansieht und deswegen fehlende oder geringe Raumtiefe als Mangel begreift, den es dringend zu beheben gilt.
Wer aber legt fest, dass Raumtiefe ein gelungenes Gemälde auszeichnet?
Gibt es so etwas wie ein „Naturgesetz“ der Malerei, dass diese zwingend erfordert?
Die Idee, dass ein Bild sich durch die möglichst perfekte Illusion der Wirklichkeit auszeichnet, entsteht irgendwann im ausgehenden Mittelalter zeitgleich in Italien und Flandern. Die Theoretiker der italienischen Renaissance waren es dann, die aus dieser Idee ein regelrechtes System entwickeln und fordern daraus sich ergebende „Kunstkniffe“ (zu denen ganz wesentlich eine möglichst perfekte Illusion räumlicher Tiefe auf der zweidimensionalen Bildfläche gehört) tatsächlich ein, ALS WÄRE diese Idee so etwas wie ein Naturgesetz. Bilder der künstlerischen Tradition aus der Zeit vor 1300, wie das oben gezeigte Mosaik aus Ravenna, mussten nach dieser Logik folgerichtig als minderwertige Kunst eingeschätzt werden.
Schon in der Spätrenaissance gibt es sehr kühne Versuche, mit dieser Idee zu brechen. Erst mit dem Beginn unserer Moderne aber bezweifeln Künstler radikal und nachhaltig die Unumstößlichkeit dieser Auffassung von Malerei.
In einem Bild wie „Stillleben mit Tanz“ aus dem Jahr 1909 (Eremitage, Sankt Petersburg) hinterfragt Henri Matisse geradezu programmatisch die „Logik“, dass ein Gemälde die Illusion von dreidimensionaler Räumlichkeit erzeugen muss. Er reagiert damit auf die radikalen Experimente des Kubismus, die Picasso und Braque etwa zwei Jahre zuvor begonnen haben. Matisse und seine Malerkollegen zweifeln systematisch an, dass es die Aufgabe der Malerei sei, die Natur auf möglichst augentäuschende Weise wiederzugeben.
(zum Vergrößern auf das Bild klicken)
Du siehst wahrscheinlich, worauf ich hinaus möchte: Die Vorstellungen, die du in den Kommentaren formulierst – gerade auch die Frage nach den technischen Hilfsmitteln, die den Malern der frühen Neuzeit geholfen haben, Probleme zu lösen, die vorhergehende Generationen noch nicht lösen konnten – scheinen alle auf einem Kunstverständnis zu basieren, das von einem Fortschrittsgedanken in der Kunst ausgeht. Die Vorstellung, dass es ein "Ziel der Kunst" gibt.
Armselig ist der Schüler, der seinen Meister nicht übertrifft.
Leonardo da VinciDiesen Aphorismus Leonardos zitiere ich oft, weil er so perfekt diese Art von Fortschrittsgläubigkeit der Renaissance ausdrückt. Der Satz macht aber nur dann Sinn, wenn man ein klares System oder Regelwerk akzeptiert – Kriterien für ein gelungenes Kunstwerk, die von quasi naturgesetzlich vorgegebenen „Richtigkeiten“ ausgehen. Nach dieser Logik ist sonnenklar (und Leonardo hätte mich glatt für verrückt erklärt, wenn ich daran gezweifelt hätte) dass Michelangelos Pieta der Essener Goldmadonna um Lichtjahre überlegen ist. Aber ist das wirklich so eindeutig?
Goldmadonna Foto: Arnoldius / CC BY-SA 2.5 (via WikiCommons) - Pieta Foto: Stanislav Traykov / C BY-SA 2.5 (via WikiCommons)
Mir scheint gerade der Vergleich der beiden Marienfiguren besonders aufschlussreich.
Natürlich: Wenn wir von einer Skulptur erwarten, dass sie auf frappierende Weise anatomische Details wiedergibt und das dann auch noch in einer Komposition zeigt, die hoch virtuos ist und der die perfekte Balance zwischen Bewegtheit und Ruhe gelingt, dann können wir nur Michelangelos Skulptur von Ende des 15. Jahrhunderts wählen und müssen angesichts der Madonna aus dem Essener Dom (spätes 10. Jh.) die Nase rümpfen.
Wenn wir aber unsere Erwartungshaltung (oder unsere Kriterien für eine gelungene Skulptur) ändern und vielleicht eher nach einer besonders magisch-expressiven Ausdruckskraft in einem Kunstwerk suchen, dann wird unser Urteil wahrscheinlich ganz anders ausfallen...
Welche sind aber denn nun die "RICHTIGEN KRITERIEN"?
Oder läuft alles auf einen radikalen Subjektivismus hinaus – ist alles gleich gut und liegen Schönheit und Qualität ausschließlich "IM AUGE DES BETRACHTERS"?
Meine Antwort lautet folgendermaßen:
"Die RICHTIGEN KRITERIEN" kann es nicht geben. Dazu müsste es in der Kunst etwas geben, das den Naturgesetzen gleichen würde. Aber nichts an der Kunst ist natürlich. Kunst ist und war immer eine Erfindung von Menschen für Menschen und ist eine Form der menschlichen Kommunikation. Alles was wir an Qualitätskriterien in Bezug auf Kunstwerke kennen, ist eine Verabredung, auf die sich Menschen zu unterschiedlichen Zeiten einigen konnten. Solche menschengemachten Verabredungen können jederzeit von anderen Menschen wieder geändert werden (anders als die Naturgesetze: Die Erde ist und bleibt rund, auch wenn sich noch so viele wissenschaftsskeptische Spinner einreden, sie sei eine Scheibe – und ein Apfel wird noch lange nachdem es keine Menschen mehr auf der Erde gibt, unbeirrt nach den Gesetzen der Schwerkraft vom Baum fallen, die Newton sich nicht ausgedacht, sondern die er lediglich erkannt und formuliert hat...)
ABER: Daraus folgt (zum Glück!) nicht, dass alles gleich (gut) ist und (Kunst-)Geschmack lediglich eine subjektive Angelegenheit.
DENN: Auch wenn es keines aber auch gar kein konkretes Kriterium gibt, das ein Kunstwerk erfüllen muss, um ein gelungenes zu sein (tiefenräumlich / anatomisch korrekt / ausgewogen / expressiv / politisch / kritisch / innovativ....) folgt daraus trotzdem keine Beliebigkeit.
Irgendetwas TUT der Künstler / die Künstlerin.
Durch sein / ihr TUN entsteht ein Ergebnis (das Gemälde / die Skulptur...).
Das was da entstanden ist aber, hat eine WIRKUNG auf den Betrachter.
Und nun wird es spannend:
Auch wenn all die Kriterien, nach denen die Menschen Kunst beurteilt haben (wenn alle Erwartungshaltungen an die Kunst) in gewissem Maße willkürlich sind, scheint es die Wirkung eines Kunstwerks auf den Betrachter nicht in gleichem Maße zu sein. Was uns aber den Blick auf ein Kunstwerk oder besser: das Empfinden für die Wirkung eines Kunstwerks entscheidend verstellen kann, sind eben genau unsere (meist erlernten) Erwartungshaltungen. So konnte es sein, dass Leonardo da Vinci blind war gegenüber der Kraft und Magie einer romanischen Marienfigur, dass Goethe Caravaggio vollkommen übersehen hat und dass derselbe intelligente, sensible und kunsterfahrene Goethe die grandiosen Gemälde Caspar David Friedrichs geringgeschätzt hat und mit Schuberts Vertonungen seiner Gedichte nichts anfangen konnte...
Das ist die schwierigste Aufgabe, der sich ein kluger Kunstbetrachter stellen muss: erkennen zu lernen, welche Erwartungshaltungen und ausgedachten Kriterien ihn geprägt haben und welche (nicht sinnlosen, aber doch willkürlichen) Werte und Ideale dahinter stecken.
Je besser das gelingt – je klarer man sich selbst durchschaut, desto klarer wird der Blick auf die Kunst (und desto reicher wird die eigene Kunst-Welt)
Und damit bin ich zurück bei unserem Ausgangspunkt und beim Vergleich der beiden "Grablegungen".
Ich komme noch einmal auf deinen Satz von dem durch Rubens behobenen "Mangel an Raumtiefe" in Caravaggios Bild zurück, lieber Christian. Wir haben analysiert, dass es Rubens tatsächlich gelingt, mehr von dieser Tiefe zu erzeugen. Damit wäre es das bessere Bild, wenn die Forderung nach mehr Raumtiefe tatsächlich einer naturgesetzlichen Richtigkeit entsprechen würde.
Es gibt aber in der Kunst keine solchen Wahrheiten, sondern nur Wirkungen. Und bei diesen Wirkungen ist es offenbar so: Es ist unmöglich, dass alle Wirkungen gleichzeitig wirksam sein können. Deswegen kann es auch kein "perfektes Bild" geben, das alle anderen überragt (ebenso wenig wie die "beste Skulptur aller Zeiten" oder die "ultimative Interpretation von Beethovens letzter Klaviersonate"). Das hört sich kompliziert an, ist aber doch ganz einfach: Wenn ich alle spannenden Gewürze aus meinem Schrank in mein Ratatouille kippe, wird das Gericht zwar sehr intensiv schmecken, aber nicht etwa besser...
Was heißt das jetzt für unsere Bilder?
Es heißt: Ja, Rubens Bild ist räumlicher. Es ist außerdem auch ruhiger und vielleicht ist es auf gewisse Weise dadurch sensibler...
Aber genau wegen dieser Zugewinne muss Rubens auf anderes verzichten, das Caravaggios Gemälde so eindrucksvoll auszeichnet: Seine enorme Unmittelbarkeit und Expressivität. Caravaggios Bild hat eine Wucht und Klarheit, die ich bei Rubens Gemälde so vermisse.
Diese Wucht und Klarheit aber erreicht Caravaggio genau dadurch, DASS er auf Raumtiefe und allzu viel Sensibilität verzichtet. Das Bild lebt von heftigen Kontrasten, die uns ins Auge springen und den Blick bannen. Die Figuren sind nicht nur in eine Flächigkeit gepresst, was zu einer plakathaften Klarheit der Komposition führt, sondern sie sind gleichermaßen alle zusammen unglaublich nah an den Betrachterraum herangerückt - auch deshalb können wir uns der Wirkung des Bildes schwer entziehen...
Hier kann man auf wunderbare Weise erkennen, warum es in der Kunst keinen Fortschritt geben kann: Für alles was wir gewinnen, müssen wir etwas anderes hergeben. Das perfekte Kunstwerk ist deshalb ein Ding der Unmöglichkeit...
(Übrigens: ob Caravaggio das genau so gewollt hat, ob er vielleicht lieber ein tiefenräumlicheres Bild geschaffen hätte, wenn er nur gekonnt hätte, ist eine zu vernachlässigende Frage. Das Wollen des Künstlers ist genauso subjektiv und bis zu einem gewissen Grade willkürlich, wie die Kriterien mit denen zeitgenössische und spätere Kunstbetrachter das Kunstwerk beurteilen. Das Kunstwerk selber hat dagegen seine eigene "Wahrheit" – seine Wirkung auf die Betrachter*innen, die sich darauf einlassen können...)
Lieber Christian, nochmal vielen Dank für Deine Gedanken und den Hinweis auf das wunderbare Rubens-Bild!
Herzliche Grüße
Uli