Materialgerechtigkeit
geschrieben am 18.09.2021 von Ulrich Forster
Ende des 19. Jahrhunderts suchten vor allem in Frankreich zahlreiche Künstler nach neuen Ausdrucksformen in der Kunst. Vieles am vorherrschenden Geschmack der so genannten Salonkunst wird dabei abgelehnt. Dazu gehört im Besonderen auch eine oft allzu oberflächliche Bewunderung technisch-handwerklicher Virtuosität, die in den Palais der reichen Pariser Bürger als Ausweis eines verfeinerten Geschmacks sowie von Luxus und Delikatesse überaus geschätzt wurde.
Auf dem Gebiet der Bildhauerei ist es dann vor allem August Rodin (1840 - 1917), der als Erster in provozierender Weise Arbeitsspuren nicht mehr glättet, sondern bewusst sichtbar stehen lässt und damit zeigt:
Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen von Schönheit (nicht nur die Schönheit glattpolierter Marmormädchenkörper, wie sie der Salongeschmack so liebte). Und es gibt andere Formen künstlerischen Könnens jenseits der Fähigkeit mit scharfgeschliffenem Meißel hauchdünne Löckchen in den Marmorstein zu schnitzen.
(Fotos können durch Anklicken vergrößert werden)
Als man erst einmal den Reiz und die Schönheit von Arbeitsspuren auf dem Material zu schätzen gelernt hat (in der Malerei ist es der sichtbare Pinselstrich der Impressionisten oder eines Van Gogh), ist es vor allem für die Bildhauer ein sehr naheliegender Gedanke, sich weiter mit den Eigenheiten, dem Charakter und den besonderen Qualitäten des jeweiligen Materials zu beschäftigen. Als man schließlich Anfang des 20. Jahrhunderts die (scheinbare) Schlichtheit und Kraft der Formensprache afrikanischer Skulpturen zu schätzen lernte und zum Vorbild moderner europäischer Kunst erklärte, war der völlige Bruch mit den ästhetischen Idealen und den Wertvorstellungen des 19. Jahrhunderts vollzogen.
Das ist zugegebenermaßen eine ziemlich verknappte Zusammenfassung der Entwicklung der Bildhauerei in der frühen Moderne. Dennoch beschreibt sie sehr wichtige Wege, in denen sich die Kunstgattung in den Jahrzehnten von etwa 1960 bis 1910 (und darüber hinaus) bewegt.
Man kann kaum bestreiten, dass das neue Verständnis vom Material, die neue Wertschätzung seiner Eigenarten und des ästhetischen Eigenwerts (der auch dann als „schön“ empfunden werden kann, wenn die Oberfläche einmal nicht glattpoliert ist und glänzt wie eine Badezimmerkachel) in der Bildhauerei ungeheuer fruchtbar war und zahllose neue Formen und Ideen ermöglicht hat, die Anfang des 19. Jahrhunderts noch völlig undenkbar schienen. Auch die von avantgardistisch denkenden Künstlern gewonnene Erkenntnis, dass die einfacheren Formen, wie man sie bei außereuropäischer Kunst gesehen hat, kraftvoller und ausdrucksstärker sein können als eine immer aufwändigere und virtuosere Umformung des ursprünglich rohen Blocks, war eine regelrechte Befreiung. Endlich war die Bildhauerei aus jener einengenden gedanklichen Gefängniszelle entlassen, die nur ein sehr begrenztes Themen- und Formenrepertoire erlaubt hatte.
Diese neuen Ideen waren also fraglos ein Gewinn, aber nun passierte Folgendes: Die Neuerer, die auszogen, sich aus verkrusteten Vorstellungen zu befreien, begnügten sich nicht damit, die alten (Kunst-)Dogmen zu überwinden und sie als willkürlich zu entlarven, sondern sie ersetzten sie umgehend durch neue.
Einfach ausgedrückt setzte sich nun folgende Idee durch: Will man dem „Material gerecht werden“, muss man seine ursprüngliche Ausdruckskraft möglichst unverfälscht erhalten. Richtig ist es, wenn man am Ende des Arbeitsprozesses (also bei der fertigen Skulptur) den ursprünglichen Steinblock (den Holzstamm / den Eisenbarren) noch wiedererkennt oder mindestens erahnen kann. Ist das nicht der Fall, hat der Künstler „etwas falsch gemacht" – er ist „dem Material nicht gerecht geworden“ sondern hat "es misshandelt und im Zwang angetan".
In der Tat: Ein roher gebrochener oder gesägter Steinblock auf einem Arbeitsbock in der Werkstatt aufgestellt, hat an und für sich eine große Kraft, Energie und Ausdrucksstärke und fast jeder Steinbildhauer kennt den bitteren Moment, in dem er sich zweifelnd fragt, ob durch all die harte Arbeit des Abschlagens, Raspelns und Polierens nicht etwas viel Schwächeres und Uninteressanteres entstanden ist, als das was vor Beginn der Mühen vorhanden war...
Gestern habe ich in meinem Artikel über Berninis Skulpturengruppe „Apollo & Daphne“ von jenem seltsamen Wandel meines Geschmacksurteils geschrieben. Ich konnte die Kraft und die Schönheit des Werks, das mich später begeistert hat, zunächst nicht sehen. Heute meine ich zu verstehen, was mich daran gehindert hat: es war ein theoretisches Kunstkonzept, mit dem ich aufgewachsen bin und an das ich „zu glauben“ gelernt hatte: die Idee der „Materialgerechtigkeit“. Nach allen Maßstäben und Vorstellungen dieses Konzepts ist Berninis Figurengruppe aberwitzig gescheitert und misslungen!
Bemerkenswert und aufschlussreich ist der Irrtum, der mir unterlaufen ist. Ein Irrtum, wie wir ihn unaufhörlich begehen, wenn wir über Kunst nachdenken und diese beurteilen:
Wir verwechseln so oft Ideen (oder eben theoretische Konstrukte) mit „Wahrheiten", die wir für objektiv und "natürlich" und damit unumstößlich halten. Tatsächlich sind diese vermeintlichen Wahrheiten aber meist nur Glaubessätze (Dogmen), die in der Regel vor allem der Abgrenzung gegenüber den Geschmacksurteilen und Wertvorstellungen anderer Menschen dienen. Im Falle der Idee von der Materialgerechtigkeit ist es, wie ich beschrieben habe, die Abgrenzung vom dogmatischen Glauben an ein bestimmtes Schönheitsideal des frühen 19. Jahrhunderts und an eine allzu unkritische Bewunderung handwerklicher Virtuosität in dieser Zeit.
Wenn wir aber so vorgehen und lediglich alte Glaubenssätze durch neue ersetzen, verhalten wir uns nicht anders als jene Menschen des 16. Jahrhunderts, die die verhassten Dogmen der römisch-katholischen Papstkirche protestierend überwunden haben, nur um sie rasch durch die oftmals noch rigideren und ebenso willkürlichen eines Martin Luther oder Johannes Calvin zu ersetzen.
Gut immerhin, dass im Namen der Kunst äußerst selten Menschen eingesperrt oder verbrannt werden. Deswegen mag es nicht weiter schlimm sein, wenn man hier seine eigenen subjektiven Vorstellungen für objektiv richtig hält.
Allerdings: Opfer fordert dogmatisches Denken auch in der Kunst. Es ist unsere eigene Urteilsfähigkeit oder wichtiger noch: unser eigener Kunstgenuss, der auf der Stecke bleibt. Wie in meinem Fall der ersten Begegnung mit der herrlichen Bernini-Skulptur. Ich habe Missmut verspürt, als ich die „Apollo&Daphne-Gruppe“ das erste Mal gesehen habe. Heute empfinde ich bei ihrem Anblick Genuss. Über diesen Gewinn bin ich sehr froh. Es hat sich also gelohnt, mich selbst und meine erlernten Werte noch einmal kritisch zu hinterfragen.
Wenn man beim Reflektieren über Qualitäts- und Schönheitsvorstellungen in der Kunst darüber hinaus vielleicht auch noch übt und lernt besser zu verstehen, wie wenig „wahr“ und naturgegeben auch viele unsere sonstigen Gewissheiten über Werte sind – dann ist die Auseinandersetzung mit KUNST(gedanken) mehr als ein hübsches Hobby für verwöhnte bildungsbürgerliche Ästheten – dann ist sie im Gegenteil äußerst wertvoll und relevant...