Niki de Saint Phalle
geschrieben am 23.03.2021 von Dr. Lena SelgeIch weiß noch, wie ich mich plötzlich in einer Welt von schillernden Farben wiederfand. Es war eine Zauberwelt, überall um mich herum Niki de Saint Phalle, Feuervogel, glitzerte und funkelte es. Der Aufstieg auf der langen Treppe war mühsam gewesen. Ich war klein, sechs Jahre alt, und die Steintreppe hatte zwei Marmorwände, über die ich nicht drüber schauen konnte. Der Handlauf war umständlich hoch für mich, es war definitiv keine Treppe, bei der der Architekt an Kinder gedacht hätte. Während ich die hohen Stufen überwand, eingezwängt zwischen den beiden kühlen Steinwangen, immer achtgebend nicht zu straucheln, sah ich am Ende der Treppe den wolkenverhangenen Himmel. Es war Sommer, der Tag meiner Einschulung. Und es war beinahe so, als ob wir in den Himmel steigen würden.
Als ich oben ankam, empfingen mich seltsame Phantasiewesen. Sie waren bunt und reflektierten das Licht. Man konnte auf sie drauf klettern oder in sie hinein gehen. Es roch nach Sommer. Die Luft surrte. Man konnte die Figuren berühren, sie spüren und somit die Kunst mit allen Sinnen wahrnehmen. Ich ging durch ein Tor, auf dem ein mächtiger Vogel saß, mit ausgebreiteten Flügeln und einer Sonne auf der Brust. Ich sah mich tausendfach in kleinen Spiegelmosaiken. In diesem Moment fühlte ich einen völlig neuen Zugang zur Kunst. Sie berührte mich im tiefsten Inneren.
Erst Jahre später begriff ich, dass ich intuitiv, als unvoreingenommenes und fröhliches Kind, das Wesen von Niki de Saint Phalles (1930–2002) künstlerischem Schaffen durchdrungen hatte, und es wahrscheinlich genau dieses Gefühl war, das sie versuchte mit ihren Figuren zu evozieren. Ein Gefühl der Leichtigkeit und des Glücks, ein Rausch der Sinne, der uns umhüllt und dabei keineswegs simpel und gefällig ist, sondern eine Komplexität im Gefühl des Geborgenseins birgt, die sich durch ihre Sensualität und Unmittelbarkeit einer konkreten Verbalisierung entzieht. Oder anders ausgedrückt, eine Kunst, die nur sinnlich verstanden werden kann, wenn Verstand und Wissen keine Bedeutsamkeit besitzen müssen, so wie es bei Kindern der Fall ist.
Niki de Saint Phalles Ausstellung auf dem Dachgarten der Bundeskunsthalle im Jahr 1992 gehört für mich zu den Schlüsselmomenten, die meine ganz persönliche Begegnung mit Kunst entscheidend prägten und meinen beruflichen Werdegang mitbestimmten. Deshalb möchte ich mit ihr meine Reihe über bedeutende Künstlerinnen beginnen. Ich weiß nicht, ob Niki de Saint Phalle das gefallen hätte. Sie war davon überzeugt, dass Kunstschaffende nicht nach Herkunft, Religion oder Geschlecht kategorisiert werden sollten, sondern künstlerische Bewegungen durch die Kunst an sich definiert werden. Sie lehnte es ab, an Ausstellungen und Publikationen mitzuwirken, die sich ausschließlich Künstlerinnen widmeten. Zurecht, wie ich finde, denn Gleichberechtigung gibt es erst, wenn das Geschlecht nicht mehr zum Thema gemacht werden muss und unter diesem Gesichtspunkt hätte sie hier an dieser Stelle mit Sicherheit nicht Sujet sein wollen. Weshalb ich mich dennoch darüber hinwegsetzen möchte, hat vor allem zwei Gründe: Erstens glaube ich, dass wir in der Kunstgeschichte leider noch nicht an dem Punkt angekommen sind, an dem das Geschlecht kein Thema mehr sein muss – die Kunstgeschichte scheint überwiegend weiß und männlich, obwohl die Kunstwelt es niemals war. Und zweitens hat mich, wie ich einleitend beschrieben habe, ihre Kunst berührt – und zwar vollkommen losgelöst von ihrem Geschlecht, denn darüber habe ich als Kind in keiner Weise nachgedacht.
Von diesem persönlichen Zugang abgesehen gehört die französisch-amerikanische Künstlerin zu den wichtigsten und kreativsten Kunstschaffenden des 20. Jahrhunderts. Sie war Mitbegründerin der Kunstform Happening, sie war Teil der Künstlergruppe Nouveaux Réalistes und es gelang ihr, zu einer restlos eigenen künstlerischen Ausdrucksform zu finden – völlig unabhängig von ihrem Frausein.
Im Laufe der Jahre, nach meiner intuitiven, kindlichen Begegnung mit ihrer Kunst, erschienen mir ihre Skulpturen eine Zeit lang – obwohl ich sie nach wie vor mochte, ich konnte gar nicht anders, weil ich sie so sehr mit dieser glücklichen Kindheitserinnerung verband – als abgedroschenes Symbol eines feministischen Mythos und, wenn man bösartig sein wollte, vielleicht auch ein wenig als nicht besonders tiefsinnige Spielerei, was letztendlich dazu führte, dass sie aus dem Blickfeld meines Interesses rutschte.
Als Catherine Marie-Agnès Fal de Saint Phalle in Neuilly-sur-Seine bei Paris geboren, wuchs Niki de Saint Phalle in New York als Tochter einer adeligen Bankiersfamilie auf, die ihr Vermögen beim Börsencrash 1929 verloren hatte. Es erschien vorbestimmt, dass sie ihren Platz als Ehefrau in der höheren Gesellschaft einnehmen würde. Doch zunächst arbeitete sie als Fotomodell, war auf dem Cover der Vogue und des Life Magazine, brannte mit ihrem Jugendfreund durch und heiratete früh. Nach einem schweren psychischen Zusammenbruch Anfang zwanzig, dessen Ursprung im sexuellen Missbrauch durch ihren Vater im Alter von elf Jahren begründet war, begann sie als Autodidaktin mit ihrer künstlerischen Arbeit, die Verbrechen, die an ihr begangen wurden, zu verarbeiten. Sie brach mit der ihr zugedachten Rolle und schaffte es mit ihrer Kunst an die Weltspitze. Berühmt wurde sie vor allem durch ihre voluminösen, bunten, fröhlichen Nanas, die sie selbst als Verkörperung weiblicher Freiheit und „Vorboten eines neuen matriarchalischen Zeitalters“ verstand. Durch ihre Biographie war sie prädestiniert für das Klischee einer Heroine, einer „Jeanne d’Arc der Kunst“, wie sie auch schnell betitelt wurde.
Cover des Life Magazine mit Niki de Saint Phalle, 1949
Im Alter von 18 Jahren begann Niki de Saint Phalle eine Karriere als Modell und brannte mit ihrem damaligen Freund Harry Mathews durch. Harry studierte Musik in Princeton und Harvard, Niki begann erste Ölgemälde und Gouachen zu malen. Die beiden heirateten und bekamen eine gemeinsame Tochter. Niki de Saint Phalle war als Fotomodell durchaus erfolgreich und arbeitete für internationale Magazine, wie das Life Magazine und die Vogue. Dabei traf sie auf die junge Vogue-Fotografin Marella Caracciolo (ab 1953 verheiratet mit Giovanni Agnelli), mit der sie ein Leben lang befreundet sein wird. Marella Caracciolo Agnelli wird etwa zwanzig Jahre später maßgeblich daran beteiligt sein, dass die Giardini dei Tarocchi – Niki de Saint Phalles Lebenswerk – entstehen können.
Peter Dewit „FaceMePLS“, www.flickr.com, CC BY 2.0, beschnitten
Als ich vor einiger Zeit im Rahmen eines Kunstprojekts für Kinder wieder begann, mich eingehender mit Niki de Saint Phalle und ihrer Kunst auseinanderzusetzen, und sie noch einmal neu als enorm vielschichtige Künstlerin kennenlernte, verstand ich erst, dass bei einer Beschäftigung mit ihrem Werk eine Kategorisierung mit Begrifflichkeiten wie „dekorativ“, „tiefsinnig“, „autobiographisch“ oder „Trauma verarbeitend“ dazu führen, am Kern ihrer Kunst vorbeizugehen. Im Grunde stimmt alles und nichts.
Katja Nevalainen, www.flickr.com, CC BY 2.0
Zu Anfang ihrer Karriere prägte Niki de Saint Phalle besonders der europäische Mittelmeerraum. Sie lebte mit ihrer Familie in Paris, in dem Künstlerort Deyà auf Mallorca, und reiste durch Südfrankreich, Italien und Spanien. Besonders inspiriert war sie von den Werken Antoni Gaudís, allen voran seinem Park Güell. Sie lernte den Schweizer Künstler Jean Tinguely kennen, der später ihr zweiter Ehemann werden sollte. Ihre – nach eigener Aussage – erste künstlerische Krise erlebte sie in der Auseinandersetzung mit den riesigen Formaten der amerikanischen Nachkriegs-Moderne. Die Bilder von Jackson Pollock, Robert Rauschenberg und Willem de Kooning brachten sie zum künstlerischen Experimentieren. 1961 gelang ihr der künstlerische Durchbruch. Im Hinterhof ihres Pariser Ateliers ließ sie einige ihrer Künstlerfreunde auf von ihr angefertigte Gipsreliefs schießen, die sie mit Farbbeuteln präpariert hatte. Die Beutel platzen auf wie offene Wunden und ließen die Bildoberfläche bluten. Mit der Zeit wurden die Bilder größer und komplexer. Sie schoss selbst über zwei Jahre lang. Sie schoss auf Monster, die ihren Vater personifizierten, auf politische Symbole, Verkörperungen des Schreckens des 2. Weltkriegs, des Algerienkrieges Anfang der 60er Jahre, auf satirische Masken von Fidel Castro, John F. Kennedy und Karl Marx. In dem Werk Le Château de Gilles de Rais widmete sie sich einem Adeligen aus dem 15. Jh., der ein gefeierter Held während des Hundertjährigen Krieges war und an der Seite von Jeanne d’Arc kämpfte. Zugleich war Gilles de Rais ein Serienmörder und missbrauchte und tötete schätzungsweise 200 Kinder. Bei näherer Betrachtung von Niki de Saint Phalles Relief erkennt man kleine Puppenköpfe in der Assemblage, die auf diese Taten anspielen.
Als ich im Erwachsenenalter zum ersten Mal von dem Missbrauch durch ihren Vater las, war ich erschüttert – nicht nur in dem Sinne erschüttert, dass ein Erwachsener in abscheulicher Weise das Leben eines anderen – noch schutzbedürftigen und auf Schutz vertrauenden – Menschen zerstört hatte, sondern auch erschüttert, dass diese Grausamkeit die Erklärung für Niki de Saint Phalles und meine Zauberwelt sein sollte. Der biografische Bezug bagatellisierte in meinen Augen die Kraft ihrer Figuren und maß ihrem Vater einen viel zu großen Anteil an ihrem künstlerischen Schaffen bei.
Niki de Saint Phalles Schießbilder (franz. tirs) sind heute weniger bekannt als ihre Skulpturen, sie sind aber ein ganz entscheidender Schritt in ihrer künstlerischen Entwicklung und wichtig, um zu begreifen, wie ihre Biografie und ihre Kunst zusammenhängen bzw. auch unabhängig von einander sind. Die Schießbilder waren ein Gewaltakt, ein Akt der Aggression, bei dem sich die Kraft des Zerstörerischen als kreative Macht transformierte. Nur durch die Umwandlung des seelischen Traumas in eine Inszenierung von Machtausübung, Zerstörung und Erneuerung – denn erst in der Aktion entstand das Kunstwerk – konnten, so ist meine These, ihre späteren Skulpturen wachsen, die in ihrem Wesen frei von jeglicher Gewalterfahrung sind und somit letztendlich von ihrer Biografie losgelöst betrachtet werden können. Aus diesem Grund war es für mich als Kind möglich, die Kraft und Präsenz ihrer Figuren wahrzunehmen, ohne über Niki de Saint Phalles Leben Bescheid zu wissen.
Hans Hammarskiöld, www.modernamuseet.se
Die ersten Nanas entwarf Niki de Saint Phalle 1965 inspiriert durch ihre schwangere Freundin Clarice Rivers, zunächst aus Draht, Wolle und Pappmaché, später aus Polyester. Auf Anregung von Pontus Hultén, Direktor des Moderna Museet in Stockholm und einer ihrer frühesten Förderer, entstand ein Jahr später gemeinsam mit dem finnischen Kunstschaffenden Per Olov Ultvedt und Jean Tinguely Hon – en kathedral (Sie – eine Kathedrale): Eine liegende Nana von 28 Meter Länge, 9 Metern Breite und 6 Metern Höhe, die durch ihre Vagina betreten werden konnte und in deren Inneren sich unter Anderem ein Kino, eine Milchbar und eine Galerie befanden.
Jean-Pierre Dalbéra, www.flickr.com, CC BY 2.0
Diese monumentale Figur legte den Grundstein zu Niki de Saint Phalles Lebenswerk, dem Skulpturen Park Giardini dei Tarocchi in der Toskana. Auf dem Hügel eines ehemaligen Steinbruchs bei Garavicchio erschuf die Künstlerin mit Hilfe ihrer langjährigen Freundin Marella Caracciolo Agnelli einen Ort der Fantasie, eine glückliche Welt, in der man sich weit weg fühlt von allen Widrigkeiten des Lebens, wo alles einfach und schön erscheint. Inspiriert durch die Tarot-Karten des Spiels aus dem 18. Jahrhundert erwuchsen 22 Skulpturen, die mit bunten und spiegelnden Mosaiksteinen überzogen sind. Fast zwanzig Jahre arbeitete Niki de Saint Phalle an diesem selbstfinanzierten Projekt, einige Zeit lebte sie sogar in der Figur der Herrscherin, die wir in der Abbildung ganz links sehen. Ein Team von anderen Kunstschaffenden, dem auch Jean Tinguely angehörte, unterstützte die Arbeiten.
Carl Campbell, www.flickr.com, CC BY-SA 2.0
Immer wieder arbeiteten Niki de Saint Phalle und Tinguely im Laufe ihrer Partnerschaft zusammen, was im Strawinsky-Brunnen (1982/83) vor dem Centre Pompidou seinen Höhepunkt findet. Besonders erstaunlich ist, wie beide ihre von einander nicht verschiedener sein könnenden Ausdrucksweisen in ihrer Zusammenarbeit niemals aufgegeben haben. Es entspinnt sich ein Dialog zwischen den bunten farbenfrohen Skulpturen de Saint Phalles und Tinguelys kalten mechanischen Maschinen, die zu nichts Nutze sind. Ihre gemeinsamen Werke sind Zeugnisse einer tiefen gegenseitigen Unterstützung und Inspiration. Nach dem überraschenden Tod des Schweizer Künstlers im Jahre 1991, widmete Niki de Saint Phalle, nun in Kalifornien ansässig, eine ihrer letzten großen Werkserien ihrem verstorbenen Ehemann. Die Tableaux éclatés, die – durch elektrische Photozellen gestreut – in ihre Einzelteile zerfallen, sind als Hommage an Tinguelys kinetische Skulpturen und an die Anfänge ihrer gemeinsamen künstlerischen Arbeit zu verstehen.
Mike Souza, www.flickr.com, CC BY-SA 2.0
In Kalifornien, genauer gesagt in Escondido, entstand auch ein weiterer Skulpturengarten, mit zehn großen Skulpturen und einer wellenförmigen Schlagenmauer. Es sind Figuren, die ganz deutlich die frühe Inspiration durch Gaudí reflektieren und eine konsequente Weiterführung ihres künstlerischen Schaffens sind. Die Materialvielfalt erreichte hier einen neuen Höhepunkt. Sie verwendete neben bunten Kacheln, Glas und Spiegeln auch Halbedelsteine und Muscheln. Die Eröffnung des Parks erlebte Niki de Saint Phalle nicht mehr. Sie starb am 21. Mai 2002 in San Diego.
Ich wollte, dass diese guten, gebenden und glücklichen Mütter die Macht über die Welt übernehmen.
Niki de Saint PhalleZwei Jahre vor ihrem Tod hatte sie noch einen Großteil ihrer Arbeiten dem Sprengel-Museum in Hannover vermacht. Denn hier hatte man sie als junge Künstlerin unterstützt und bereits Anfang der 70er Jahre einer Bürgerinitiative zum Trotz drei große Nanas in Auftrag gegeben, die heute auf der Skulpturenmeile am Leineufer zum Wahrzeichen der Stadt geworden sind. „Ich wollte, dass diese guten, gebenden und glücklichen Mütter die Macht über die Welt übernehmen“ – die Macht über mich haben sie übernommen, seit dem Tag meiner Einschulung, als ich auf dem Dach der Bundeskunsthalle stand, von einem leichten Wind gestreichelt im warmen Sonnenlicht umhüllt und aufgehoben in dieser Zauberwelt.
Jürgen Götzke, de.wikipedia.org, CC BY-SA 3.0