KUNSTgedankenDie Malerin Paula Rego

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Die Malerin Paula Rego

Die wenigsten Touristen kommen nach Cascais, um dort nach Kultur zu suchen. Wer sich von Lissabon aus dorthin auf den Weg macht, sucht in der Regel nach Naturerlebnissen oder nach einem Tag am Strand. Dort, etwa 30 km westlich der portugisischen Hauptstadt mündet der Tajo in den Atlantik. Nur einen kurzen Fußmarsch an malerischen Klippen entlang gelangt man zum westlichsten Punkt von Festland-Europa...

Ich aber bin in den ersten Märztagen dorthin gefahren, weil ich mich auf einer Vorbereitungsreise befand und in einem Architektur-Reiseführer auf einen bemerkenswerten Museumsbau des portugiesischen Pritzker-Preisträgers Eduardo Souto de Moura aufmerksam geworden bin: die Casa das Histórias Paula Rego 

Ein wenig fühlt man sich nach Nordafrika versetzt, wenn man sich dem Bauwerk nähert. Das liegt an dem an eisenhaltigen Lehm erinnernden rötlich eingefärbten Sichtbeton und an den beiden prägnanten Kegel, die Zelte, kleine spitze Pyramiden, an irgendwelche archaische Bauwerke jedenfalls erinnern.
Tritt man aber ein wenig näher, steht man vor einem sehr klar strukturierten sachlich-modernen Gebäude und jede folkloristische Assoziation verschwindet.


Es war also zunächst ein beachtenswertes Bauwerk, das mich neugierig gemacht hat. Von der Künstlerin, der man hier an der Atlantikküste gleich ein komplettes eigenes Museum erbaut hat, hatte ich noch nie gehört.
Dabei handelt es sich eigentlich nicht gerade um einen "Geheimtipp". Im vergangen Herbst zeigte die Londoner Tate Gallery eine große Paula-Rego-Retrospektive – eine Ausstellung die anschließend nach Den Haag weitergewandert ist, wo sie bis zum 20. März im Kunstmuseum der Stadt zu sehen war. Dort konnte ich sie wenige Tage bevor sie endete noch sehen und habe festgestellt:
Ich hatte da eine Lücke, die unbedingt geschlossen werden musste! Ich habe eine faszinierende Malerin kennengelernt, deren umfangreiches, vielschichtiges und sehr eindrucksvolles Werk meiner Aufmerksamkeit unverständlicherweise bislang völlig entgangen war.

Paula Rego ist 1935 in Lissabon geboren. Im Jahr 1952 aber zieht sie nach London, um an der angesehenen "Slade School of Fine Art" Kunst zu studieren. Während des Studiums lernt sie ihren späteren Ehemann, den Maler Victor Willing, kennen. Viele Jahre pendeln beide zwischen England und Portugal, bevor sie 1975 endgültig nach London ziehen wo Paula Rego bis heute lebt und arbeitet.

Paula Rego "Salazar Vomoting the Homeland" (1960), Museum Calouste Gubelkian, Lissabon

Regos Oeuvre umfasst eine enorme Bandbreite und ihr Stil hat sich im Laufe der Jahrzehnte mehrfach stark gewandelt.
"Salazar Vomoting the Homeland" ist der Titel eines Gemäldes, das gleich im ersten Saal der Ausstellung in Den Haag zu sehen war. Es gehört zu den Bilder der frühen Schaffensphase in den 60er Jahren. Stilistisch steht es den neo-expressionistischen Strömungen der Nachkriegszeit nahe, der "Art brut" eines Jean Dubuffet etwa oder auch Bildern von Malern der Gruppe COBRA wie Asger Jorn oder Carel Appel.

Drei Körper sind vor einem dunklen Bildhintergrund zu erkennen – mit wütendem Pinselstrich auf die Leinwand geworfen.
Wenn es auch schwer fällt, die einzelnen Figuren als solche zu erkennen und ohne dass man genau weiß, was da genau passiert, spürt man doch unmittelbar den Zorn und die Verachtung, die die damals noch junge Künstlerin angetrieben hat. Jener Salazar, der sich da über seinem Heimatland erbricht (seltsamerweise sind es die beiden Figuren rechts und links, die sich übergeben und ich hätte am ehesten das stachelige Monster in der Mitte für den Tyrannen gehalten), ist der autoritäre Diktator unter dessen Regime Paula Rego aufgewachsen ist und dessen Ideologie sie zutiefst verachtete.
Vielfach hat die Künstlerin in ihrem Frühwerk in Gemälden und Collagen ihren Protest gegen die Salazar-Diktatur (die zeitlich längste in Europa im 20. Jahrhundert!) abgearbeitet. Es ist die ideologische Rückwärtsgewandtheit von Salazars so genanntem "Estato Novo", erwachsen aus den faschistischen Bewegungen der 30er Jahre und gestützt von einem reaktionären katholischen Klerus, gegen die sich der Zorn der jungen Frau richtet.

Einen breiten Raum nahmen in der aktuellen Sammlungspräsentation des Museums in Cascais Bilder der 70er und frühen 80er Jahre ein. Ein wenig zu meinem Bedauern, denn es ist die Werkphase, die mich am wenigsten beeindruckt hat. Die Farben werden heller, die Protagonisten lesbarer. Es ist eine skurril-bunte Fantasiewelt, die uns da präsentiert wird – ein wenig Comic-Ästhetik, ganz viel Bilderbuch und eine kräftige Prise Pop Art – nicht unsympathisch aber auch nichts, was meine Aufmerksamkeit länger fesseln konnte.

Ganz anders und viel unmittelbarer berühren mich dagegen jene Bilder, die in der bislang letzten Schaffensphase der heute 85jährigen Künstlerin entstanden sind und die in sehr großem Umfang in der Ausstellung in Den Haag zu sehen waren.

Sie geht gewissermaßen den umgekehrten Weg: Nicht von einer realistischen Figürlichkeit sukzessive hin zu immer freierer Abstraktion, wie man es von zahlreichen Künstler*innen der frühen Moderne kennt – Paula Regos künstlerische Entwicklung verläuft in die Gegenrichtung.

links: "The Artist in Her Studio" (1993) / rechts: "The Cadet and his Sister" (1988)

Die beiden oben nebeneinander gestellten Bilder aus den Jahren 1993 und 1988 sind prägnante Beispiele für die Wendung hin zum späten Malstil. Sie lassen darüber hinaus deutlich den großen Einfluss der Kunst des Surrealismus auf Paula Regos Bildwelten erkennen.

Mit "The Artist in Her Studio" stellt sich Rego vordergründig in die Tradition eines Rembrandts und zahlloser weiterer Künstler*innen, die sich bei der Arbeit selbst porträtiert haben. Ganz klein (in einer verrückten umgekehrt-perspektivischer Verkleinerung) ist die Malerin unten rechts im Bild an der Staffelei zu erkennen. Aber wer sind die übrigen Frauenfiguren, die auf dem Gemälde zu erkennen sind? Porträtiert sich Rego auch in dem Pfeife rauchenden Modell und der kleinen Dunkelhaarigen mit dem aquamarienblauen Kleid, die einen Zeichenstift in der rechten Hand zu halten scheint?
Wer ist die blonde Frau, die mit einem langen schaufel- oder besenartigen Gegenstand eine riesige Gottesanbeterin (Lieblingstier der Surrealisten, die sich an der schaurig-schönen Tatsache, dass die Weibchen dieser Insektengattung ihre Männchen nach der Begattung gelegentlich verspeisen, begeistert konnten) verscheucht?

 

Auf seltsame Weise halten sich amüsante Belustigung und Beklemmung die Waage, wenn man dieses Bild betrachtet.
Sie könnte einfach nur putzig sein, die kleine Banjo-spielende Maus auf dem Tisch im Vordergrund – würde sie uns nicht mit so großen Totenkopfaugen anstarren und die Zähne blecken und würden die wuchernden Kohlblätter mit ihren beängstigend scharfen Zacken nicht in so einem bedrohlichen Größenverhältnis zu der winzigen Malerin an der Staffelei stehen...

 

 
Nur auf den ersten Blick ist "The Cadet and His Sister" das realistischere Bild.
Lediglich der Hahn im Vordergrund (er steht auf einer Plinthe und ist also ein Spielzeug oder ein Deko-Objekt) stellt eine offensichtliche inhaltliche Brechung dar. Doch auch ohne diesen irritierenden Gegenstand behielte die Szene einen irrealen Charakter. Es ist weniger offensichtlich, doch auch hier verwirrt uns die Malerin durch den Einsatz ungleicher Größenverhältnisse. Übergroß ist die Bank auf der der junge Soldat sitzt.
Auch die Schwester, die dem frisch Rekrutierten die Schuhe zubindet, wäre stehend annähernd doppelt so groß wie ihr Bruder.

Der schrumpft so zu einem kleinen schutzbedürftigen Kind und es schaudert einen bei der Vorstellung, dass dieser Antiheld mit den blütenweißen Handschuhen in einen erbarmungslosen Krieg geschickt werden könnte, wie ungezählte junge Portugiesen in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, als Salazar und seine Generäle verbissen die Bedeutung des zunehmend verarmten und wirtschaftlich abgehängten Portugal als koloniale Großmacht verteidigen wollten. (Proteste gegen die gewaltigen Verluste im besonders grausam geführten Krieg in Angola führten am 25. April 1974 schließlich zur "Nelkenrevolution" und zum Ende der Diktatur in Portugal).
Ist die kahle Wand hinter den Geschwistern, durch deren Öffnung wir eine Zypressen-Allee erkennen, eine Friedhofsmauer ?
Zur beklemmenden Stimmung des Bildes trägt auch die völlig überzogene Perspektivkonstruktion mit dem extrem hoch gelegenen Fluchtpunkt bei. Paula Rego wiederholt hier einen Kunstkniff, den wir vielfach in den Gemälde von Giorgio de Chirico, dem wichtigen Vorbereiter des Surrealismus, finden.

Paula Rego "The Pillow Man" (2004)

Was mich am Werk Paula Regos am meisten beeindruckt ist die Tatsache, dass sie (anders als sehr viele berühmte Künstler*innen des 20. und 21. Jahrhunderts) im Laufe der Jahrzehnte nicht an Kraft und Konzentration verliert, sondern dass sie sich immer weiter entwickelt, zu einer ganz eigenständigen Bildsprache findet und dabei immer stärker wird.

Das Triptychon "The Pillow Man" zeigt uns eine ihrer herausragenden Qualitäten. Rego ist eine Erzählerin, der es gelungen ist, die alte Tradition des "Historienbilds" neu zu beleben. Dabei wärmt sie selbstverständlich nicht die verstaubten Geschichten der antikem Mythologie wieder auf und natürlich wiederholt sie auch nicht die Geschichten der christlichen Überlieferung aus Altem oder Neuem Testament.
"The Pillow Man" (der Kissenmann) ist inspiriert von einem gleichnamigen Theaterstück des irischen Dramatikers Martin McDonagh, in dem Geschichten von misshandelten Kindern in einem fiktiven totalitären Regime erzählt werden. Wie bei jedem wirklich guten Historienbild muss man die zugrundeliegende Geschichte nicht kennen, um sich von der Szenerie gefangen nehmen zu lassen. Natürlich drängt es einen zu erfahren, was es mit dem ebenso unheimlichen wie anrührenden Kissenmann auf sich hat, der traumatisierte Menschen rettet, indem er sie in die Zeit ihrer Kindheit zurückversetzt und ihnen hilft, diese loszulassen. Mann kann sich das Stück kaufen oder auf eine Theateraufführung hoffen. Aber es ist keine notwendige Voraussetzung, denn die Gemälde sprechen für sich. Ihre Qualität ist eine ganz eigene und das was sie in uns auslösen und bewirken können, ist etwas anderes als das was die Lektüre hervorrufen kann.

Paula Rego "Lullaby", Radierung (2009)
links: F. de Goya "Volavérunt" aus "Los Caprichos" (1793 - 1799) / rechts: Paula Rego "The Dame with the Goat's Foot Mounting a Donky" (2013)

Die späte Paula Rego ist eine künstlerische Traditionalistin und sie ist es im allerbesten Sinne (ich wünschte mir sehr viel mehr solche Künstler*innen von ihrem Format). Sie beweist auf eindrucksvolle Weise, dass die Möglichkeiten der klassischen Gattungen, dass die Mittel der Malerei und der Zeichnung keinesfalls erschöpft und überholt sind.
Je stärker sie sich zurückbesinnt und an den großen Meistern der Vergangenheit orientiert, desto eigenständiger wird ihr eigenes Werk. Offensichtlich ist das Vorbild eines weiteren wichtigen Vorreiters der surrealistischen Maler im 20. Jahrhundert – das Vorbild des Malers Francisco de Goya.
In ihrem umfangreichen grafischen Oeuvre greift Rego viele seiner Stilmittel auf und misst sich ganz unerschrocken an der Virtuosität des großen Spaniers. Offensichtlich interessiert sich die Künstlerin immer weniger für formale oder stilistischen Innovation – was sollte es da auch noch Großartiges zu erfinden geben nach 150 Jahren permanenter künstlerischer Revolution und zahlloser vorgeblicher Erweiterungen des Kunstbegriffs?
Rego bedient sich also ganz ungeniert bei allen Künstler*innen, die sie beeindrucken.
Und doch ist sie weit davon entfernt, irgendetwas lediglich zu kopieren oder einfallslos zu wiederholen.
Nicht die stilistischen Mittel sind es, die neu sind. Es sind die eigenen Themen, die zu neuen Bildern führen. Themen, die sie berühren und die sie für relevant hält.
Immer wieder ist es die Auseinandersetzung mit der Diktatur, in der sie aufgewachsen ist.
Im Laufe der Jahre werden es aber auch immer häufiger Themen sein, die sie als Frau in besonderer Weise berühren und für die sie ihre Malerinnen-Stimme erhebt.
Beklemmend-eindrucksvoll ist etwa die Grafik-Serie in der sie sich mit der Genitalverstümmelung von Frauen auseinandersetzt (oben zeige ich eines der Blätter mit dem zynischen Titel "Lullaby" (Wiegenlied))

Erst im Jahr 2007 wurde in Portugal Abtreibung unter strengen Auflagen legalisiert (mit Polen, Irland und Malta hat das Land nach wie vor eines der strengsten Abtreibungsgesetze in Europa). Noch im Jahr 1998 lehnte eine Mehrheit der Bevölkerung nach einer massiven Kampagne konservativer Kreise und der immer noch sehr einflussreichen katholischen Kirche, eine Liberalisierung in einem Referendum ab. Empört begann Paula Rego eine Serie, in der sie die Not, die Einsamkeit und das Risiko thematisiert, dem Frauen ausgesetzt sind, die sich deshalb gezwungen sehen, heimlich abzutreiben und sich in die Hände von zwielichtigen Quacksalbern begeben oder die verzweifelt selbst zu meist fragwürdigen und riskanten Mitteln greifen.

Paula Rego "Target" (1995)

"Target" – so lautet der Titel eines Bildes aus dem Jahr 1995. Die Frau, die hier das "Ziel", die offenbar ein Opfer ist (wovon genau? – die Bedeutungsoffenheit ist eine wesentliche Qualität des Bildes) – diese Frau ist ein typische weibliche Protagonistin auf den Bildern der portugiesischen Künstlerin. Sie wirkt verletzlich und stark zugleich. Es sind durchweg kräftige Figuren, keine Püppchen oder Modemagazinschönheiten. Man traut Regos Frauengestalten auch in der größten Not und in Situationen schlimmer Demütigung zu, sich wieder zu erheben und sich dem Schicksal zu widersetzen.


Max Frisch hat einmal geäußert, dass Schriftsteller immer wieder neu Liebesgeschichten erzählen können, obwohl schon seit Jahrhunderten solche geschrieben werden (und mit "Romeo und Julia" bereits im späten 16. Jahrhundert ein schwer zu überbietendes Meisterwerk des Genres entstanden ist). Das sei deswegen möglich, weil sich menschliche Gesellschaften und damit die Bedingungen für Liebesbeziehungen wandeln. Bei all den Konstanten, die es natürlich auch gibt (deshalb hat uns Shakespeares Stück auch heute noch etwas zu sagen), erleben die meisten Menschen heute andere Konflikte als vor 425 Jahren. Eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller muss also keine neue Gattung erfinden oder gar den ganzen Literaturbegriff erweitern. Schriftsteller*innen müssen nur die heutige Welt und die in ihr lebenden Menschen beobachten und beschreiben und so entstehen immer wieder neue, relevante Geschichten.

Paula Rego ist ein hervorragender Beweis, dass für die uralte Gattung Malerei genau dasselbe gilt. Was nötig ist, um ein (in diesem Sinne) modernes Bild zu schaffen, das sich mit den Großen der Vergangenheit (mit den Goyas, Tizians, Rembrandts...) messen kann, ist keinesfalls technische oder formale Innovation. Je länger ich mich mit Kunst beschäftige, desto überzeugter bin ich, dass uns diese Idee nur in eine (Kunst-)Welt voller Willkürlichkeiten und Beliebigkeiten geführt hat.
Die Gemälde Paula Regos zeigen mir, dass es (wie seit Jahrhunderten) stattdessen zwei Voraussetzungen braucht: Einen modernen, frischen Blick auf die Welt und das Talent und die Meisterschaft, das Gesehene umzusetzen.
Wie zu allen Zeiten gibt es nicht viele Begabungen, die in der Lage sind, es mit den wirklich Großen der Zeit aufzunehmen. (Es schreibt auch nicht jeder mal ebenso ein Stück wie "Romeo und Julia").
Nachdem ich das Glück hatte, kurz hintereinander zwei umfangreiche Präsentationen der Werke Paula Regos zu sehen, neige ich dazu zu behaupten: Diese Künstlerin gehört dazu.

Das Atelier von Paula Rego im Jahr 2007

Foto: Dinkydarcey / CC By-SA 4.0 (via WikiCommons)